Was regeln Tarifverträge, für wen gelten sie, wer handelt sie aus? Schönes Video nicht nur für Schüler:innen.
(Den Hinweis verdanke ich der Zeitschrift Mitbestimmung Nr. 1, Februar 2023)
Welcher Partei sind arbeitspolitische Themen wichtig? Meiners/Molitor (2021) haben kürzlich die Wahlprogramme der sechs größten Parteien (https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme, heruntergeladen am 28.8.2021) daraufhin analysiert, wie häufig das Wort „Mitbestimmung“ (genauer: Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen) in diesen vorkommt. Zudem haben sie die Programme inhaltlich analysiert und die Forderungen bzw. Positionen herausgearbeitet. Bei der Häufigkeit des Begriffes „Mitbestimmung“ zeigten sich interessante Befunde:
Wahlprogramme der Partei | Häufigkeit der Nennung des Begriffs „Mitbestimmung“ (der Arbeitnehmer) |
Die Linke | 41 |
Bündnis90/Die Grünen | 12 |
SPD | 6 |
CDU/CSU | 3 |
AfD | 2 |
FDP | 0 |
Tabelle 1: Häufigkeit der Nennung des Begriffs „Mitbestimmung“ in den jeweiligen Wahlprogrammen; Zahlenangaben aus: Meiners/Molitor 2021: 22
Einfache Häufigkeitsanalysen sind ein weit verbreitetes Verfahren in der Text- bzw. Inhaltsanalyse. Die Häufigkeit des Vorkommens von Begriffen als Indikator dafür, wie wichtig einer Partei ein Thema ist, mag zwar allein nicht ausreichend sein, ist aber zumindest ein erster Anhaltspunkt. Ich wäre jedenfalls überrascht, wenn die FDP das Thema häufiger angesprochen würde als die Links-Partei. Sicher müssen wir darüber hinaus wissen, was mit einem Begriff genau gemeint ist. Geht es z. B. um Mitbestimmung auf der Betriebs- oder auf der Unternehmensebene, ist nur die gesetzliche geregelte Mitbestimmung gemeint etc.? Zudem müssen wir wissen, um bei Beispiel der Mitbestimmung zu bleiben, ob diese positiv, neutral oder negativ gesehen wird. Grundsätzlich wäre es ja denkbar, dass eine Partei Mitbestimmung ablehnt, sich deswegen in ihrem Programm entsprechend äußert und den Begriff negativ konnotiert häufig nennt. Im Vordergrund des Beitrages von Meiners/Molitor (2021) stehen neben den Zählungen die Wertungen und inhaltlichen Überlegungen der Parteien.
Im Folgenden erweitere ich die Analysen von Meiners/Molitor vor allem im Bereich der Häufigkeitsanalyse, inhaltlich gehe ich allerdings weniger in die Tiefe. Ich habe mich gefragt, ob sich die Häufigkeiten der Nennung auch anderer arbeitspolitischer Begriffe von Partei zu Partei unterscheiden und ob wir ein ähnliches Muster wie beim Begriff „Mitbestimmung“ finden.
Die Programme der oben genannten sechs Parteien wurden daraufhin untersucht, wie häufig folgende arbeitspolitische Begriffe bzw. Themen in ihnen vorkommen:
Themen (Begriffe) | Suchbegriffe |
Arbeitszeit | arbeitszeit* |
Gewerkschaft | gewerkschaft*, interessenvertretung* |
Lohn | Arbeitslohn, entgelt*, gehalt, gehälter*, lohn*[1], löhne, mindestl* |
Mitbestimmung | betriebsr*, mitbestimm* |
Tarifvertrag | allgemeinverbindlich*, tarif* |
Tabelle 2: Arbeitspolitische Themen und Suchbegriffe
Groß- und Kleinschreibungen wurden ignoriert. Das *-Zeichen steht für einen Platzhalter; wenn also nach gewerkschaft* gesucht wird, dann werden Begriffe „Gewerkschaft“, „Gewerkschaftsbewegung“, „Gewerkschaften“, gewerkschaftlich etc. gefunden. Zudem könnte „Interessenvertretung“ der Beschäftigten ein Synonym für „Gewerkschaft“ sein, ebenso bezeichnen die Begriffe „Lohn“ und „Gehalt“ dasselbe. Es geht also nicht um einzelne Begriffe allein, sondern um Themen- oder Wortfelder. So gehört meiner Auffassung nach zum arbeitspolitischen Themenfeld „Tarifvertrag“ auch die Thematik „Allgemeinverbindlichkeit“, daher habe ich neben „tarif*“ auch nach „allgemeinverbindlich*“ gesucht. Dieses Wörterbuch – oder in der Sprache der Methodik der Inhaltsanalyse: Diktionär ‑ ist sicher nicht vollständig. So fehlen Themen wie Arbeitsinhalt, Arbeitsplatzsicherheit (Entlassung, Kündigungsrecht), Befristung oder atypische Beschäftigung wie Leiharbeit, um nur einige zu nennen. Gleichwohl meine ich, etliche Aspekte der Lohn-Leistungs-Relation und ihrer Regulierung (durch Mitbestimmung, Gewerkschaften, Tarifverträge) erfasst zu haben.
Die aktuellen Wahlprogramme wurden aus dem PDF-Format in Textdateien umgewandelt. Das Inhaltsverzeichnis und, so vorhanden, der Index wurden entfernt. Für die Begriffssuche und -zählung habe ich das frei verfügbare und einfach zu bedienende Software-Programm Yoshikoder verwendet (Lowe 2015). Diesem Programm wird das Diktionär vorgegeben, anschließend durchsucht das Programm den jeweiligen Text, also das Wahlprogramm der Partei.
Ein erstes Ergebnis zeigt die folgende Grafik.
Grafik 1: Arbeitspolitische Begriffe in Wahlprogrammen
Betrachten wir zunächst, wie häufig die oben genannten arbeitspolitischen Begriffe insgesamt in den Wahlprogrammen vorkommen. Wir finden eine identische Reihenfolge wie bei Meiners/Molitor unter Verwendung des Begriffs „Mitbestimmung“ allein: Die Partei „Die Linke“ nennt in ihrem Programm 318 arbeitspolitische Begriffe, dann folgen mit deutlichen Abstand Bündnis90/Die Grünen mit 100 Nennungen, die SPD mit 69, CDU/CSU mit 39,, die AfD mit 19 und zum Schluss die FDP mit 16 Nennungen.
Das Programm Yoshikoder erlaubt auch die Anzeige von Konkordanzen, d. h., die vor und nach einem Begriff wie z. B. Arbeitszeit stehenden Wörter, so dass man recht rasch prüfen kann, in welchem Sinne der Begriff verwendet und welche Wertung vorgenommen wird. So findet man bei der FDP das Thema Arbeitszeit mit dem Ziel der Flexibilisierung verbunden, während Die Linke von Verkürzung und Umverteilung spricht.
Bisher haben wir nicht berücksichtigt, dass die Wahlprogramme sich in ihrer Länge bzw. der Anzahl der Begriffe sehr stark unterscheiden. So umfasst das Programm der Grünen rund 69 Tausend, das der Links-Partei etwa 68 Tausend Wörter, während die SPD mit rund 24 Tausend Wörtern das kürzeste Programm formuliert hat (jeweils ohne Inhaltsverzeichnis, Index, Beitrittserklärung etc.). Allerdings ändert sich am Gesamtbild bzw. der Reihenfolge der Parteien bei der Nennung der Begriffe kaum etwas, wenn man die Anzahl der arbeitspolitischen Begriffe ins Verhältnis zur Gesamtzahl setzt. Die Links-Partei verwendet 4,7 arbeitspolitische Begriffe pro 1000 Wörter, die FDP 0,45. Die SPD rückt bei Verwendung der relativen Häufigkeiten mit 2,9 pro 1000 Wörtern auf den zweiten Platz nach der Links-Partei, und die Grünen rücken auf Rang 3. Ansonsten bleibt die oben erwähnte Reihenfolge erhalten.
Bei den einzelnen Begriffen bzw. Themenfeldern will ich hier nur eines kommentierend herausgreifen: das Themenfeld Gewerkschaft bzw. Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen. Die Links-Partei kommt hier auf 46 Nennungen, die SPD und Bündnis90/Die Grünen jeweils auf 8. Bei den anderen Parteien werden Gewerkschaften nicht erwähnt.
Alles in allem ist die Partei „Die Linke“ diejenige, die in ihrem Wahlprogramm mit deutlichem Abstand am häufigsten arbeitspolitische Begriffe (von der oben genannten Liste) nennt. Bei der SPD und bei den Grünen scheint Arbeitspolitik ebenfalls wichtig zu sein. Man könnte einwenden, dass diese Berücksichtigung zunächst einmal rein sprachlicher Art ist. Wie sollte das aber in Wahlprogrammen anders sein? Welche Voraussetzungen und Folgen beispielweise eine Verkürzung der Arbeitszeit hätte, wäre getrennt zu untersuchen. Begreifen wir Wahlprogramme als Versprechen, als Ankündigung, was eine Partei tun will, dann kann eine einfache Häufigkeitsanalyse (ergänzt um inhaltliche Analysen) einen wenn auch kleinen Beitrag zum besseren Verständnis der Parteipositionen leisten.[2] Die Programme zu lesen und zu verstehen, bleibt selbstverständlich unverzichtbar.
In der dritten Veranstaltung der Reihe “(Un-)Würdige Arbeit” diskutierten am diskutierten die Experten Heiner Heiland (Arbeitssoziologe an der TU Darmstadt, der auch als Kurierfahrer gearbeitet hat), Karsten Rupprecht (Gewerkschaftssekretär bei verdi, zuständig für den Bereich Einzelhandel und ein Logistikzentrum von Amazon) und Lennart Vogt (ehemals Fahrer bei “Flaschenpost”) über die Arbeitsbedingungen bei Plattformarbeit. (Die Moderation übernahmen Ortrud Harhues, KAB-Bildungswerk Münster, und der Verfasser dieses Berichts, Prof. Werner Nienhüser, Universität Duisburg-Essen.)
Behandelt wurden drei Fragenblöcke: 1. Arbeitssituation, insb. Arbeitsbelastungen, Entlohnung / Arbeitszeiten und die tarifvertragliche (rechtliche) Situation. 2. Was müsste sich ändern? 3. Was ist konkret als nächstes zu fordern und zu tun?
Erstens ist die ortsgebundene Plattformarbeit zu nennen. Ein Beispiel ist der Lieferdienst Lieferando. Hier werden digital, über eine Internet-Plattform, Dienstleistungen zwischen Käufern (Essensbestellern) und Verkäufer (Restaurants) vermittelt. Die Steuerung der Arbeitsleistung, die die Leistungsmessung und -kontrolle erfolgt ebenfalls digital, z.B. über Apps, die die Leistung der Auslieferer über deren Smartphones kontrollieren. Zweitens gibt es bei großen Handelsplattformen wie Amazon ortsgebundene Tätigkeiten etwa Lagerarbeiten. Auch bei dieser Form der Plattformarbeit wird Software zur Kontrolle der Arbeitsleistung eingesetzt. Eine Software zeichnet z.B. auf, wer wann und wie lange welches Paket bewegt und verpackt hat. Auch Pausen und andere Abwesenheitszeiten werden registriert. Drittens gibt es Tätigkeiten, die im “virtuellen Raum” erbracht werden. Hier können die Beschäftigten (oftmals Solo-Selbständige) an jedem beliebigen Ort arbeiten. Beispiele für solche Tätigkeiten sind die Erledigung von Designaufträgen oder auch das Ausfüllen von Fragebögen. – Die Veranstaltung behandelte vor allem die beiden ersten Formen.
Alle Formen haben die Idee gemeinsam: (Arbeits-)Kosten möglichst gering zu halten und die Arbeitsleistung über Software-Einrichtungen zu erfassen, zu bewerten und zu steuern (so Werner Nienhüser in seiner Einführung)
“Im November mussten Gerichte in Köln und Frankfurt Sie dazu bringen, Mitarbeiterlisten herauszugeben, weil sonst kein Betriebsrat gegründet werden kann. Warum hatten Sie die Listen nicht herausgerückt?” Antwort: “Das Thema liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich, da diese Fragen bei unserer Logistikschwestergesellschaft liegen.“ Hier scheint ein wichtiges Merkmal solcher Unternehmen auf: Verantwortung wird überwälzt auf andere. (Und Journalisten fragen nicht genug nach.) (siehe dazu detaillierter Numme/Vos 2020).
Mitarbeiter*innen in den Logistikzentren von Amazon verdienen etwa 2000 Euro monatlich (Amazon-Webseite 2020). Fahrer bei Lieferando bekommen ebenfalls mit Zulagen rund 2000 Euro (Numme/Vos 2020). Paketzusteller erhalten knapp 2.600 Euro, allerdings nur in großen Unternehmen, mit einer Berufserfahrung von mindestens 5 Jahren) (www.lohnspiegel.de). Damit liegen die Beschäftigten dieser Unternehmen deutlich unter dem Medianlohn der Gesamtwirtschaft (3200 Euro).
Neben der schlechten Bezahlung der Beschäftigten sowohl bei den Lieferdiensten als auch bei den Amazon-Logistik-Zentren wurde von den Experten immer wieder auf die starke, als entwürdigend empfundene Kontrolle der Arbeitnehmer*innen hingewiesen. Der Text eines Tagesschau-Beitrages illustriert diese Kontrolle eindrücklich:
In der Diskussion wurde auch der Vorschlag gemacht, die Wahl eines Betriebsrates in jedem Betrieb gesetzlich vorzuschreiben. Derzeit wird ein Betriebsrat erst dann gewählt, wenn die Arbeitnehmer dies wollen und die Initiative ergreifen. Da viele Beschäftigte in der KEP-Branche einen befristeten Vertrag haben, müssen sie fürchten dass ihr Vertrag nicht verlängert werden könnte, wenn sie sich für die Wahl eines Betriebsrates engagieren und betriebsöffentlich äußern. Das dürfte eine der Ursachen für die geringe Verbreitung von Betriebsräten in dieser Branche sein (zu weiteren Aktionen von Arbeitgebern, Betriebsräte zu verhindern, siehe Behrens/Dribbusch 2020). Der Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsratswahlen wird häufig entgegengehalten, dass dann ein arbeitgeberfreundlicher oder sogar ein von Arbeitgeber dominierter Betriebsrat gewählt würde. In der Diskussion wurde auch erwähnt, dass es einige solcher Betriebsräte bereits jetzt gäbe. Die Aussage, dass man besser keinen als einen arbeitsgeberabhängigen Betriebsrat haben sollte, wurde nicht weiter diskutiert (zur Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsräte siehe Nienhüser 2014) .
Nötig ist auch die Aufklärung der Konsument*innen. Viele Menschen, der Verfasser eingeschlossen, schätzen die Möglichkeit, im Internet zu bestellen. Leicht ignorieren oder verdrängen wir dabei, dass die rasche und billige Lieferung auf Kosten derjenigen geht, die die Waren verpacken und liefern – oftmals auch zu Lasten der in der Produktion Arbeitenden, gerade in Niedriglohnländern in internationalen Lieferketten (Lessenich 2016).
Im Folgenden finden Sie neben der zitierten Literatur weiterführende Literaturhinweise, auch von den Experten der Veranstaltung. Dabei habe ich mich bemüht, möglichst Texte zu nennen, die frei (kostenlos) zugänglich sind.
Zitierte Literatur
Weiterführende Literatur