In der dritten Veranstaltung der Reihe „(Un-)Würdige Arbeit“ diskutierten am diskutierten die Experten Heiner Heiland (Arbeitssoziologe an der TU Darmstadt, der auch als Kurierfahrer gearbeitet hat), Karsten Rupprecht (Gewerkschaftssekretär bei verdi, zuständig für den Bereich Einzelhandel und ein Logistikzentrum von Amazon) und Lennart Vogt (ehemals Fahrer bei „Flaschenpost“) über die Arbeitsbedingungen bei Plattformarbeit. (Die Moderation übernahmen Ortrud Harhues, KAB-Bildungswerk Münster, und der Verfasser dieses Berichts, Prof. Werner Nienhüser, Universität Duisburg-Essen.)
Behandelt wurden drei Fragenblöcke: 1. Arbeitssituation, insb. Arbeitsbelastungen, Entlohnung / Arbeitszeiten und die tarifvertragliche (rechtliche) Situation. 2. Was müsste sich ändern? 3. Was ist konkret als nächstes zu fordern und zu tun?
Was ist Plattformarbeit?
Erstens ist die ortsgebundene Plattformarbeit zu nennen. Ein Beispiel ist der Lieferdienst Lieferando. Hier werden digital, über eine Internet-Plattform, Dienstleistungen zwischen Käufern (Essensbestellern) und Verkäufer (Restaurants) vermittelt. Die Steuerung der Arbeitsleistung, die die Leistungsmessung und -kontrolle erfolgt ebenfalls digital, z.B. über Apps, die die Leistung der Auslieferer über deren Smartphones kontrollieren. Zweitens gibt es bei großen Handelsplattformen wie Amazon ortsgebundene Tätigkeiten etwa Lagerarbeiten. Auch bei dieser Form der Plattformarbeit wird Software zur Kontrolle der Arbeitsleistung eingesetzt. Eine Software zeichnet z.B. auf, wer wann und wie lange welches Paket bewegt und verpackt hat. Auch Pausen und andere Abwesenheitszeiten werden registriert. Drittens gibt es Tätigkeiten, die im „virtuellen Raum“ erbracht werden. Hier können die Beschäftigten (oftmals Solo-Selbständige) an jedem beliebigen Ort arbeiten. Beispiele für solche Tätigkeiten sind die Erledigung von Designaufträgen oder auch das Ausfüllen von Fragebögen. – Die Veranstaltung behandelte vor allem die beiden ersten Formen.
Alle Formen haben die Idee gemeinsam: (Arbeits-)Kosten möglichst gering zu halten und die Arbeitsleistung über Software-Einrichtungen zu erfassen, zu bewerten und zu steuern (so Werner Nienhüser in seiner Einführung)
Eine wachsende und keineswegs kleine Branche
Beispiel Lieferando
„Im November mussten Gerichte in Köln und Frankfurt Sie dazu bringen, Mitarbeiterlisten herauszugeben, weil sonst kein Betriebsrat gegründet werden kann. Warum hatten Sie die Listen nicht herausgerückt?“ Antwort: „Das Thema liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich, da diese Fragen bei unserer Logistikschwestergesellschaft liegen.“ Hier scheint ein wichtiges Merkmal solcher Unternehmen auf: Verantwortung wird überwälzt auf andere. (Und Journalisten fragen nicht genug nach.) (siehe dazu detaillierter Numme/Vos 2020).
Niedrige Löhne, hohe Belastungen
Mitarbeiter*innen in den Logistikzentren von Amazon verdienen etwa 2000 Euro monatlich (Amazon-Webseite 2020). Fahrer bei Lieferando bekommen ebenfalls mit Zulagen rund 2000 Euro (Numme/Vos 2020). Paketzusteller erhalten knapp 2.600 Euro, allerdings nur in großen Unternehmen, mit einer Berufserfahrung von mindestens 5 Jahren) (www.lohnspiegel.de). Damit liegen die Beschäftigten dieser Unternehmen deutlich unter dem Medianlohn der Gesamtwirtschaft (3200 Euro).
Neben der schlechten Bezahlung der Beschäftigten sowohl bei den Lieferdiensten als auch bei den Amazon-Logistik-Zentren wurde von den Experten immer wieder auf die starke, als entwürdigend empfundene Kontrolle der Arbeitnehmer*innen hingewiesen. Der Text eines Tagesschau-Beitrages illustriert diese Kontrolle eindrücklich:
Was tun?
In der Diskussion wurde auch der Vorschlag gemacht, die Wahl eines Betriebsrates in jedem Betrieb gesetzlich vorzuschreiben. Derzeit wird ein Betriebsrat erst dann gewählt, wenn die Arbeitnehmer dies wollen und die Initiative ergreifen. Da viele Beschäftigte in der KEP-Branche einen befristeten Vertrag haben, müssen sie fürchten dass ihr Vertrag nicht verlängert werden könnte, wenn sie sich für die Wahl eines Betriebsrates engagieren und betriebsöffentlich äußern. Das dürfte eine der Ursachen für die geringe Verbreitung von Betriebsräten in dieser Branche sein (zu weiteren Aktionen von Arbeitgebern, Betriebsräte zu verhindern, siehe Behrens/Dribbusch 2020). Der Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsratswahlen wird häufig entgegengehalten, dass dann ein arbeitgeberfreundlicher oder sogar ein von Arbeitgeber dominierter Betriebsrat gewählt würde. In der Diskussion wurde auch erwähnt, dass es einige solcher Betriebsräte bereits jetzt gäbe. Die Aussage, dass man besser keinen als einen arbeitsgeberabhängigen Betriebsrat haben sollte, wurde nicht weiter diskutiert (zur Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsräte siehe Nienhüser 2014) .
Nötig ist auch die Aufklärung der Konsument*innen. Viele Menschen, der Verfasser eingeschlossen, schätzen die Möglichkeit, im Internet zu bestellen. Leicht ignorieren oder verdrängen wir dabei, dass die rasche und billige Lieferung auf Kosten derjenigen geht, die die Waren verpacken und liefern – oftmals auch zu Lasten der in der Produktion Arbeitenden, gerade in Niedriglohnländern in internationalen Lieferketten (Lessenich 2016).
Wie geht es weiter mit der Reihe? Und wie kann ich mehr zum Thema erfahren?
Im Folgenden finden Sie neben der zitierten Literatur weiterführende Literaturhinweise, auch von den Experten der Veranstaltung. Dabei habe ich mich bemüht, möglichst Texte zu nennen, die frei (kostenlos) zugänglich sind.
Zitierte Literatur
- Amazon (2020): Löhne und Arbeitskonditionen für Amazon Logistikmitarbeiter. Amazon-Webseite 11.9.2020. Online verfügbar unter https://blog.aboutamazon.de/logistikzentren/l%C3%B6hne-und-arbeitskonditionen-f%C3%BCr-amazon-logistikmitarbeiter, zuletzt geprüft am 16.04.2021.
- Behrens, Martin; Dribbusch, Heiner (2020): Umkämpfte Mitbestimmung : Ergebnisse der dritten WSI- Befragung zur Be- und Verhinderung von Betriebsratswahlen. In: WSI-Mitteilungen 73, S. 286–294.
- Bludau-Hoffmann, Herbert (2020): In Würde arbeiten. In: Der Freitag. Online verfügbar unter https://www.freitag.de/autoren/herby/mehr-gute-und-wuerdige-arbeit, zuletzt geprüft am 16.04.2021.
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Pascal Meiser u. a. und der Fraktion DIE LINKE, betreffend „Arbeitsbedingungen in der Branche der Paket-, Express- und Kurierdienstleistungen“. Berlin. Online verfügbar unter https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/2019/190408_KA_1908133_Paketbranche.pdf, zuletzt geprüft am 30.03.2021.
- Ciesielski, Rebecca; Khamis, Sammy; Lenz, Johannes; Schälter, Verena (2020): Kritik von Mitarbeitern Lieferando-Fahrer fühlen sich überwacht. Tagesschau. Online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/wirtschaft/lieferando-arbeitsbedingungen-101.html, zuletzt aktualisiert am 11.11.2020.
- Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Carl Hanser Verlag München.
- Nienhüser, Werner (2014): Betriebsratswahlen gesetzlich vorschreiben. Ein Diskussionsvorschlag zur Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung. In: Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin.
- Numme, Thorsten; Vos, Oliver (2020): Lieferando-Chefin im Interview. „Corona hat uns um ein Jahr nach vorne gebracht“. In: Der Tagesspiegel v. 8.12.2020. Online verfügbar unter https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/lieferando-chefin-im-interview-corona-hat-uns-um-ein-jahr-nach-vorne-gebracht/26691598.html, zuletzt geprüft am 16.04.2021.
- Rügemer, Werner; Wigand, Elmar (2014): Union Busting in Deutschland. Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung. Frankfurt / Main: Otto-Brenner-Stiftung, Arbeitsheft Nr. 77. Online verfügbar unter https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH77_UnionBusting_Ruegemer_2014_05_12.pdf.
Weiterführende Literatur
- Heiland, Heiner (2019): Plattformarbeit im Fokus. Ergebnisse einer explorativen Online-Umfrage zu plattformvermittelter Kurierarbeit. In: WSI-Mitteilungen 72 (4), S. 298–304. Online verfügbar unter https://www.researchgate.net/profile/Heiner-Heiland-2/publication/334758421_Plattformarbeit_im_Fokus_Ergebnisse_einer_explorativen_Online-Umfrage_zu_plattformvermittelter_Kurierarbeit/links/5f50979492851c250b8c3acb/Plattformarbeit-im-Fokus-Ergebnisse-einer-explorativen-Online-Umfrage-zu-plattformvermittelter-Kurierarbeit.pdf.
- Heiland, Heiner (2020): Die Praxis der Plattformarbeit. Von der Relevanz ethnografscher Analysen digitaler Arbeitskulturen. In: Berliner Blätter 82, S. 17–28. Online verfügbar unter https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/22825/Heiland.pdf?sequence=1.
- Keller, Berndt; Seifert, Hartmut (2020): Soziale Risiken der Digitalisierung – Regulierungsbedarfe der Beschäftigungsverhältnisse. In: Industrielle Beziehungen 27 (2-2020), S. 227–249. DOI: 10.3224/indbez.v27i2.07.
- Lücking, Stefan (2019): Arbeiten in der Plattformökonomie. Über digitale Tagelöhner, algorithmisches Management und die Folgen für die Arbeitswelt. Report Nr. 5 Forschungsförderung. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Online verfügbar unter https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_report_005_2019.pdf.
- Paternoga, Dagmar; Rätz, Werner; Piétron, Dominik (2019): Eine andere Digitalisierung ist möglich. Chancen und Risiken einer vernetzten Gesellschaft. Hamburg: VSA-Verlag (AttacBasis Texte).
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