Expertendiskussion am 15.4.2021: ‘Click and Buy’- (Un-)Würdige Arbeit bei Lieferdiensten und Co.

In der dritten Veranstaltung der Reihe „(Un-)Würdige Arbeit“ diskutierten am diskutierten die Experten Heiner Heiland (Arbeitssoziologe an der TU Darmstadt, der auch als Kurierfahrer gearbeitet hat), Karsten Rupprecht (Gewerkschaftssekretär bei verdi, zuständig für den Bereich Einzelhandel und ein Logistikzentrum von Amazon) und Lennart Vogt (ehemals Fahrer bei „Flaschenpost“) über die Arbeitsbedingungen bei Plattformarbeit.  (Die Moderation übernahmen Ortrud Harhues, KAB-Bildungswerk Münster, und der Verfasser dieses Berichts, Prof. Werner Nienhüser, Universität Duisburg-Essen.)

Behandelt wurden drei Fragenblöcke: 1. Arbeitssituation, insb. Arbeitsbelastungen, Entlohnung / Arbeitszeiten und  die tarifvertragliche (rechtliche) Situation. 2. Was müsste sich ändern? 3. Was ist konkret als nächstes zu fordern und zu tun?

Was ist Plattformarbeit?

Erstens ist die ortsgebundene Plattformarbeit zu nennen. Ein Beispiel ist der Lieferdienst Lieferando. Hier werden digital, über eine Internet-Plattform, Dienstleistungen zwischen Käufern (Essensbestellern) und Verkäufer (Restaurants) vermittelt. Die Steuerung der Arbeitsleistung, die die Leistungsmessung und -kontrolle erfolgt ebenfalls digital, z.B. über Apps, die die Leistung der Auslieferer über deren Smartphones kontrollieren. Zweitens gibt es bei großen Handelsplattformen wie Amazon ortsgebundene Tätigkeiten etwa Lagerarbeiten. Auch bei dieser Form der Plattformarbeit wird Software zur Kontrolle der Arbeitsleistung eingesetzt. Eine Software zeichnet z.B. auf, wer wann und wie lange welches Paket bewegt und verpackt hat. Auch Pausen und andere Abwesenheitszeiten werden registriert. Drittens gibt es Tätigkeiten, die im „virtuellen Raum“ erbracht werden. Hier können die Beschäftigten (oftmals Solo-Selbständige) an jedem beliebigen Ort arbeiten. Beispiele für solche Tätigkeiten sind die Erledigung von Designaufträgen oder auch das Ausfüllen von Fragebögen. – Die Veranstaltung behandelte vor allem die beiden ersten Formen.

Alle Formen haben die Idee gemeinsam: (Arbeits-)Kosten möglichst gering zu halten und die Arbeitsleistung  über Software-Einrichtungen zu erfassen, zu bewerten und zu steuern (so Werner Nienhüser in seiner Einführung)

Eine wachsende und keineswegs kleine Branche

Mehr als 500 Tsd. Beschäftigte arbeiten in der Branche, die in der offiziellen Statistik als „Kurier-, Paket- und Expressdienstleistungen“ (KEP-Branche) bezeichnet wird. Die Branchenaufteilung der Statistik scheint mir hinter den Verhältnissen zurückzubleiben und die Struktur und Veränderungen neuer  Branchen kaum zu erfassen. Daher ist es nicht einfach, Zahlen zu finden. Auch in den Antworten der Bundesregierung (Bundestag 2019) wird immer wieder darauf verwiesen, dass keine Informationen aus der offiziellen Statistik zur Verfügung stünden. Beim Vergleich z.B. zur Automobil- und Bauwirtschaft sieht man, dass es sich um eine recht große Branche handelt – die künftig noch größer werden wird.
Die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich von denen anderer Branchen: Die Beschäftigten sind überdurchschnittlich häufig nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt, arbeiten häufiger in Teilzeit und haben einen geringeren Monatslohn (im Vergleich zur Gesamtwirtschaft 700 Euro im Monat weniger).

Beispiel Lieferando

Am Beispiel Lieferando, einem Essens-Lieferdienst, sieht man das Wachstum und das Potenzial der Branche. Das Interview, auf das ich mich im Folgenden beziehe, gibt auch Hinweise auf den Umgang mit den Beschäftigten.
Mehr als 20.000 Restaurants sind bei Lieferando.de gelistet. Die Auslieferung erfolgt aktuell in 39 Städten, es gehen 10 Millionen Bestellungen über die Plattform an die dort vertretenen Restaurants. Die Zahl der Bestellungen ist im dritten Quartal 2020 um 38 Prozent gewachsen. „Im Durchschnitt vermitteln wir einem Restaurant 100.000 Euro Umsatz pro Jahr“ (Numme/Vos 2020). 5000 Fahrer fahren derzeit für Lieferando, Tendenz steigend. Bei Auslieferung durch das Restaurant erhält Lieferando 13 Prozent des Umsatzes (90 Prozent der Restaurants liefern selbst aus). Wenn die Auslieferung durch Lieferando erfolgt, dann bekommt die Plattform 30 Prozent. Interessant ist die Antwort auf die folgende Frage:

„Im November mussten Gerichte in Köln und Frankfurt Sie dazu bringen, Mitarbeiterlisten herauszugeben, weil sonst kein Betriebsrat gegründet werden kann. Warum hatten Sie die Listen nicht herausgerückt?“ Antwort: „Das Thema liegt nicht in meinem Verantwortungsbereich, da diese Fragen bei unserer Logistikschwestergesellschaft liegen.“ Hier scheint ein wichtiges Merkmal solcher Unternehmen auf: Verantwortung wird überwälzt auf andere. (Und Journalisten fragen nicht genug nach.) (siehe dazu detaillierter Numme/Vos 2020).

Niedrige Löhne, hohe Belastungen

Mitarbeiter*innen in den Logistikzentren von Amazon verdienen etwa 2000 Euro monatlich (Amazon-Webseite 2020). Fahrer bei Lieferando bekommen ebenfalls mit Zulagen rund 2000 Euro (Numme/Vos 2020). Paketzusteller erhalten knapp 2.600 Euro, allerdings nur in großen Unternehmen, mit einer Berufserfahrung von mindestens 5 Jahren) (www.lohnspiegel.de). Damit liegen die Beschäftigten dieser Unternehmen deutlich unter dem Medianlohn der Gesamtwirtschaft (3200 Euro).

Neben der schlechten Bezahlung der Beschäftigten sowohl bei den Lieferdiensten als auch bei den Amazon-Logistik-Zentren wurde von den Experten immer wieder auf die starke, als entwürdigend empfundene Kontrolle der Arbeitnehmer*innen hingewiesen. Der Text eines Tagesschau-Beitrages illustriert diese Kontrolle eindrücklich:

Reporterteam bekommt Daten zugespielt. Für Lieferando-Fahrer Ewaldt ist neben dem eigenen Fahrrad das private Mobiltelefon Hauptarbeitsgerät. Über eine App erhält er Aufträge, gibt Rückmeldung über zugestellte Lieferungen. Fahrer wie Ewaldt kritisieren den hohen Datenverbrauch der App oder die Tatsache, dass Kunden den Standort der „Rider“ während der Lieferung permanent nachverfolgen können. So fallen Daten an, viele Daten. Zugriff darauf hat auch das Unternehmen. Fahrer aus ganz Deutschland haben Reporterinnen und Reportern von Plusminus und BR erzählt, dass sie sich durch die App überwacht fühlen. Dem Reporterteam zugespielte Dokumente belegen nun erstmals, wie viele Daten die App tatsächlich erhebt: sekundengenaue Angaben über Eingang der Bestellung, Abholung der Speisen bis hin zur Übergabe beim Kunden. Darüber hinaus Berechnungen, inwiefern „Rider“ vorgegebene Zeiten einhalten. All das wird personalisiert und teilweise über Jahre gespeichert. Fahrer-App ermöglicht „Leistungs- und Verhaltensprofil“. Datenschutz- und Arbeitsrechtsexperte Peter Wedde kritisiert, dass sich mit diesen Daten ein „präzises Leistungs- und Verhaltensprofil“ erstellen ließe: „Es führt dazu, dass die Beschäftigten sehr gläsern sind, dass man also jeden einzelnen Verhaltensschritt erfassen kann, den man für die Auftragsabwicklung eigentlich gar nicht bräuchte.“Lieferando teilt auf Anfrage mit, die Fahrer-App sei datenschutzkonform und werde nicht zur unerlaubten Leistungs- oder Verhaltenskontrolle genutzt. Laut Lieferando-Gründer Gerbig erhebe man die Daten der Fahrer für die Gehaltsabrechnungen. Die Daten würden nicht in die Entscheidung einbezogen, ob ein Vertrag verlängert wird oder nicht. Man halte sich „an geltende Gesetze“, so Gerbig“ (Ciesielski u.a. 2020).

Was tun?

In der Veranstaltung wurden folgende Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen diskutiert:
(1) Bildung und Aufklärung sind nötig.
Viele Beschäftigte wissen zu wenig über die Macht, die sie durch gewerkschaftliche Organisation und die Bildung von Betriebsräten gewinnen könnten. Dazu passte das in der Veranstaltung gespielte Lied
„Wir sind Versandsoldaten – Jan Böhmermann & der Chor der Scheinselbstständigen“.

In der Diskussion wurde auch der Vorschlag gemacht, die Wahl eines Betriebsrates in jedem Betrieb gesetzlich vorzuschreiben. Derzeit wird ein Betriebsrat erst dann gewählt, wenn die Arbeitnehmer dies wollen und die Initiative ergreifen. Da viele Beschäftigte in der KEP-Branche einen befristeten Vertrag haben, müssen sie fürchten dass ihr Vertrag nicht verlängert werden könnte, wenn sie sich für die Wahl eines Betriebsrates engagieren und betriebsöffentlich äußern. Das dürfte eine der Ursachen für die geringe Verbreitung von Betriebsräten  in dieser Branche sein (zu weiteren Aktionen von Arbeitgebern, Betriebsräte zu verhindern, siehe Behrens/Dribbusch 2020). Der Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsratswahlen wird häufig entgegengehalten, dass dann ein arbeitgeberfreundlicher oder sogar ein von Arbeitgeber dominierter Betriebsrat gewählt würde. In der Diskussion wurde auch erwähnt, dass es einige solcher Betriebsräte bereits jetzt gäbe. Die Aussage, dass man besser keinen als einen arbeitsgeberabhängigen Betriebsrat haben sollte, wurde nicht weiter diskutiert (zur Forderung nach gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsräte siehe Nienhüser 2014) .

Nötig ist auch die Aufklärung der Konsument*innen. Viele Menschen, der Verfasser eingeschlossen, schätzen die Möglichkeit, im Internet zu bestellen. Leicht ignorieren oder verdrängen wir dabei, dass die rasche und billige Lieferung auf Kosten derjenigen geht, die die Waren verpacken und liefern – oftmals auch zu Lasten der in der Produktion Arbeitenden, gerade in Niedriglohnländern in internationalen Lieferketten (Lessenich 2016).

(2) Mehr „gute“ Arbeitsverhältnisse.
Wir dürfen nicht abrücken vom Leitbild und der Realisierung eines sozialversicherungspflichtigen, langfristig angelegten und tarifvertraglich abgesicherten Arbeitsverhältnisses, das Arbeitenden ein ausreichendes Einkommen, auch im Alter nach der Erwerbsphase, bietet. Diese Form von Beschäftigung sollte nach wie vor die Regel sein. Als Mittel zur Erreichung wurden u.a. gesetzliche Einschränkungen bei der Möglichkeit, Arbeitsverträge zu befristen sowie der Abschluss und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen (vgl. zu diesen und weiter Forderungen Bludau-Hoffmann 2020 sowie weitere Beiträge auf https://herbertbludauhoffmann.home.blog/veroeffentlichungen).
(3) Schließlich wurde angesprochen, ob nicht andere Organisationsformen als die kapitalistische Unternehmung möglich  und nötig wären (grundsätzliche Kritik am Kapitalismus war für mich nicht zu hören): Warum sollten nicht z.B. Essens-Lieferdienste als Genossenschaften organisiert werden, die auch den Beschäftigten gehören? Entgegengehalten wurde, dass solche Formen möglicherweise nicht wettbewerbsfähig sind, was eben daran liegen könnte, dass sie anders als kapitalistische nicht auf Ausbeutung der Beschäftigten setzen oder aber die Beschäftigten sich selbst ausbeuten.

Wie geht es weiter mit der Reihe? Und wie kann ich mehr zum Thema erfahren?

Die Reihe wird am 17. Juni, 18:00 Uhr, fortgesetzt  mit der Veranstaltung „Würdige Arbeit – solidarische Gesellschaft“ (siehe dazu auch https://forumdrv.de/category/wuerdigearbeit).

Im Folgenden finden Sie neben der zitierten Literatur weiterführende Literaturhinweise, auch von den Experten der Veranstaltung. Dabei habe ich mich bemüht, möglichst Texte zu nennen, die frei (kostenlos) zugänglich sind.

Zitierte Literatur

Weiterführende Literatur

  • Heiland, Heiner (2019): Plattformarbeit im Fokus. Ergebnisse einer explorativen Online-Umfrage zu plattformvermittelter Kurierarbeit. In: WSI-Mitteilungen 72 (4), S. 298–304. Online verfügbar unter https://www.researchgate.net/profile/Heiner-Heiland-2/publication/334758421_Plattformarbeit_im_Fokus_Ergebnisse_einer_explorativen_Online-Umfrage_zu_plattformvermittelter_Kurierarbeit/links/5f50979492851c250b8c3acb/Plattformarbeit-im-Fokus-Ergebnisse-einer-explorativen-Online-Umfrage-zu-plattformvermittelter-Kurierarbeit.pdf.
  • Heiland, Heiner (2020): Die Praxis der Plattformarbeit. Von der Relevanz ethnografscher Analysen digitaler Arbeitskulturen. In: Berliner Blätter 82, S. 17–28. Online verfügbar unter https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/22825/Heiland.pdf?sequence=1.
  • Keller, Berndt; Seifert, Hartmut (2020): Soziale Risiken der Digitalisierung – Regulierungsbedarfe der Beschäftigungsverhältnisse. In: Industrielle Beziehungen 27 (2-2020), S. 227–249. DOI: 10.3224/indbez.v27i2.07.
  • Lücking, Stefan (2019): Arbeiten in der Plattformökonomie. Über digitale Tagelöhner, algorithmisches Management und die Folgen für die Arbeitswelt. Report Nr. 5 Forschungsförderung. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Online verfügbar unter https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_report_005_2019.pdf.
  • Paternoga, Dagmar; Rätz, Werner; Piétron, Dominik (2019): Eine andere Digitalisierung ist möglich. Chancen und Risiken einer vernetzten Gesellschaft. Hamburg: VSA-Verlag (AttacBasis Texte).

 

 

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