Hier einige Auszüge aus der Rezension; der vollständige Text ist hier zu finden: Nienhüser, Werner (2024): Rezension zu “Windolf, Paul; Marx, Christian (2022): Die braune Wirtschaftselite. Unternehmer und Manager in der NSDAP. Frankfurt: Campus Verlag“. In: WSI-Mitteilungen 77 (2), S. 152–153.
“Rund 38 % der deutschen Wirtschaftseliten waren in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP). In der Gesamtbevölkerung lag dieser Anteil mit rund 12 % deutlich niedriger. … Das Buch behandelt die Frage nach den Gründen für die Parteimitgliedschaft der Wirtschaftseliten. Zudem werden die Karrieren dieser Funktionselite und ihr Rechtfertigungsverhalten nach dem Ende des Nazi-Regimes untersucht: Kehrten die Eliten in ihre vorherigen oder ähnliche Positionen zurück? Wie rechtfertigten sie ihre Beteiligung am NS-System? Und änderten sie ihre Einstellungen?
Die Autoren beantworten diese Fragen in einer tiefgehenden und spannend zu lesenden Verbindung aus quantitativen und qualitativen Analysen. Sie gehen von einem Datensatz aus, der Informationen über sämtliche Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der rund 350 größten Unternehmen für die Jahre 1933 und 1938 enthält. Für jede Person in diesem Datensatz haben die Autoren auf Basis von Recherchen im Bundesarchiv Informationen über die NSDAP-Mitgliedschaft hinzugefügt (S. 133f.), wobei die jüdischen Wirtschaftseliten ausgenommen wurden, da diese nicht der NSDAP beitreten konnten. Insgesamt umfasst die Stichprobe 537 Personen. ….
Die statistischen Befunde verstehen die Autoren weniger als Erklärungen, sondern als weiter erklärungsbedürftig. Daher ergänzen sie die quantitativen durch qualitative Analysen. Die Lebenswege systematisch ausgewählter Personen werden exemplarisch bis ins Detail nachgezeichnet. … Auf diese Weise arbeiten sie überzeugend heraus, dass der Parteibeitritt der Wirtschaftseliten eine bewusste und freiwillige Entscheidung war, ohne dabei die Erklärung individualtheoretisch zu verengen und sozio-ökonomische Strukturen zu ignorieren. Auch wird betont, dass das Regime ein massives Interesse am Management der Unternehmen hatte: Zum einen mussten die Unternehmen auf eine Ausweitung der Rüstungsproduktion und eine stärkere Autarkie der Volkswirtschaft ausgerichtet werden. Zum anderen wollte man die NS-Ideologie in die Unternehmen und Betriebe tragen: „Die Betriebsgemeinschaft, in der sich jeder kritiklos einzufügen hatte, war eine Kopie der Volksgemeinschaft und der durch das Regime praktizierten repressiven Sozialintegration. Der Betrieb konnte zur Propagandabühne des Regimes gemacht werden“ (S. 127 f.).
Wesentliche Motive der Wirtschaftseliten zum Parteibeitritt waren „ökonomische Interessen, opportunistisches Mitläufertum, defensive Strategien und ideologische Überzeugungen“ (S. 119). Die zu erwartenden und sich auch realisierenden Profite waren ein erstes starkes Motiv. Eine opportunistische Untertanenhaltung ging wohl oft Hand in Hand mit Profiterwartungen. Defensive Strategien resultierten u. a. daraus, dass durch die Auflösung von Arbeitgeber- und Industrieverbänden Netzwerke verloren gingen. Viele Wirtschaftseliten seien daher auch deswegen in die NSDAP eingetreten, um in den neuen Netzwerken der Partei und der Ministerien weiterhin die Interessen ihrer Betriebe und ihre persönlichen Karrieren zu verfolgen (S. 74). Grundsätzlich fungierte die Parteimitgliedschaft zudem als „Schutzschild“ (S. 96), da das Regime nicht vor Enteignung und Gewaltanwendung zurückschreckte. Wesentlich ist die weitgehende Übereinstimmung zwischen den Werten und politischen Überzeugungen der Wirtschaftselite und der NS-Ideologie. Die Wirtschaftselite hielt ein autoritäres System für besser geeignet, um politische und wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten. Klassengegner wie SPD, KPD und Gewerkschaften wurden liquidiert, Unternehmer und Manager bekamen die volle Befehlsgewalt in den Betrieben. Das System der Betriebsgemeinschaft kam den Wertvorstellungen der Wirtschaftsführer entgegen. Nicht zuletzt respektierte das NS-Regime trotz seiner antikapitalistisch klingenden Propaganda die ökonomischen Interessen des Kapitals. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde nicht angetastet. Dafür wurde Folgebereitschaft erwartet, die man auch durch den Parteibetritt zu signalisieren hatte.
Windolf und Marx zeigen überzeugend, dass die Wirtschaftselite massiv durch das NS-System und seine Wirtschafts- und Sozialpolitik profitierte. Aufrüstung und nicht zuletzt die „Arisierung jüdischer Betriebe“ boten enorme Profitmöglichkeiten (S. 77). Zwischen 1933 und 1938 wuchs das Bruttosozialprodukt durchschnittlich um 9 % jährlich (S. 76). Die Lohn- und Sozialleistungsquoten sanken. Die Löhne erreichten auch 1939 noch nicht wieder das Niveau von 1928. Die wöchentlichen Arbeitszeiten nahmen vor allem in rüstungsrelevanten Industrien zu. Die Eigenkapitalrendite der Industrie-Aktiengesellschaften stieg deutlich an. Die Einkommensverteilung veränderte sich zugunsten der Wirtschaftselite. In den 1930er-Jahren nahm der Anteil des Volkseinkommens, der auf die Top-1%-Einkommensbezieher*innen entfiel, wieder deutlich zu und betrug 1938 16 % – ein hoher Anteil, der bis heute nicht wieder erreicht wurde (S. 77 und 79). …
[Nach 1945] vor Gericht verantworten mussten sich nur wenige Mitglieder der Wirtschaftselite. Man stellte sich häufig gegenseitig Leumundszeugnisse aus, die von den Alliierten oft als Entlastungsbelege akzeptiert wurden. So blieben mit einer einzigen Ausnahme sämtliche Vertreter der Großbanken von Anklagen verschont. Zwar wurden 13 IG-Farben-Manager wegen Raub, Plünderung sowie Organisierung und Nutzung von Sklavenarbeit 1948 zu zum Teil langjährigen Haftstrafen verurteilt, jedoch entließ man bereits 1951 alle Verurteilten vorzeitig aus der Haft. „Von den 227 Mitgliedern der Wirtschaftselite …, die den Zweiten Weltkrieg überlebten und 1950 noch nicht zu alt für einen Neustart ihrer Karrieren waren, haben 142 Personen wieder eine Position im Vorstand oder Aufsichtsrat eines westdeutschen Großunternehmens gefunden“ (S. 307). Dieser Anteil von 62 % zeigt die nahezu „bruchlose Kontinuität der deutschen Funktionseliten“ (S. 293). …
Windolf und Marx arbeiten eine Reihe von idealtypischen Rechtfertigungsmustern bezogen auf den Parteibeitritt heraus. Man wäre der NSDAP beigetreten, um Deutschland vor dem Bolschewismus und generell vor dem Chaos zu retten. Man sei unter Druck eingetreten oder gar selbst Opfer gewesen. Ein weiteres Rechtfertigungsmuster: Man hätte bei Parteieintritt nicht wissen können, wie sich das Regime entwickeln würde. Windolf und Marx setzen dieser Rechtfertigung entgegen, dass den Wirtschaftseliten die zu erwartende Entwicklung spätestens 1933 hätte klar sein müssen. Die SA mit mehr als 400.000 Mitgliedern (1932) verübte täglich Gewalttaten; systematischer antisemitischer Terror und die Verfolgung politischer Gegner konnten kaum verborgen bleiben (S. 334). Hitler hatte bereits im Januar 1932 in einer Rede vor 650 Wirtschaftsführern im Industrie-Club Düsseldorf unter Beifall deutlich gemacht, dass die NSDAP die Demokratie abschaffen werde (S. 335). Ein zentraler Punkt, um den Parteibeitritt zu verstehen, das zeigt das Buch deutlich, ist die Nähe des in der Wirtschaftselite vorherrschenden national-autoritären Denkens zur NS-Ideologie, in Verbindung mit Profitinteressen. Die demokratische Verfassung der Weimarer Republik wurde abgelehnt. Den Institutionen der Arbeitsbeziehungen wie Gewerkschaften, Betriebsräten und Tarifverträgen stand die Wirtschaftselite feindlich gegenüber. Ein autoritärer Staat mit einer an Kapitalinteressen orientierten Wirtschaftspolitik wurde bevorzugt. … „Die Beteiligung an Enteignung, Zwangsarbeit und Mord nahmen große Teile der Wirtschaftselite als Kollateralschaden in Kauf“ (S. 192). …
Das Buch sollte Pflichtlektüre sein für die Managementforschung – über die Geschichtswissenschaft hinaus. …
In politischer Hinsicht lassen die Befunde der Studie befürchten, dass sich selbst eine demokratisch eingestellte Wirtschaftselite kaum mehrheitlich gegen ein autoritäres politisches System wenden würde. Denn für die Herstellung systemkonformen Verhaltens der Unternehmensführungen würde es vermutlich schon ausreichen, wenn eine autoritäre Regierung das Privateigentum an Produktionsmitteln sowie die Möglichkeiten einzelunternehmerischer Profiterzeugung und -anneignung kaum antasten oder erweitern würde.”
Nienhüser, Werner (2024): Rezension zu “Windolf, Paul; Marx, Christian (2022): Die braune Wirtschaftselite. Unternehmer und Manager in der NSDAP. Frankfurt: Campus Verlag“. In: WSI-Mitteilungen 77 (2), S. 152–153.