Marx-Ratio. Wiederkehr der Ausbeutungsrate als Indikator1
Vieles ist zu seinem 200. Geburtstag über Karl Marx und seine Theorien geschrieben worden. Besonders beeindruckt hat mich ein recht schlichter Vorschlag von Neil Irvin (Irwin 2018), der in einem Artikel in der New York Times vorschlägt, die Ausbeutungsrate von Unternehmen zu untersuchen. Irwin spricht vom „Marx Ratio“.
„The Marx Ratio, as we’re calling it, captures the relationship between a company’s profits — the return to capital, on a per-employee basis — and how much its median employee is compensated, a rough proxy for the return to labor. Companies with high Marx Ratios offer particularly strong rewards to their shareholders relative to workers“ (Irwin 2018).
Der Marx-Quotient ist nicht mit der Marx’schen Ausbeutungsrate identisch ist (Ruccio 2018), allerdings sieht auch Ruccio den Quotienten als eine Art Proxy-Variable an. (Vor rund vierzig Jahren hat übrigens das Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) einen sehr ähnlichen Indikator vorgeschlagen; vgl. Schmidt 1975: 136; das Buch hat mir in meinem Studium den mir zunächst trocken erscheinenden Stoff der Bilanzanalyse genießbar gemacht.)
Irwin (2018) selbst weist auf einige Probleme des Marx-Ratio hin: Zum einen müsse man den Kapitaleinsatz mit berücksichtigen, zum anderen ergibt die Ausbeutungsrate wenig Sinn, wenn ein Unternehmen Verluste macht. Hinzuzufügen ist, dass sicher auch die Verhandlungsposition der Gewerkschaften und die (regionale) Arbeitsmarktlage einen Einfluss auf den Marx-Quotienten haben dürften. Eine statistische Kontrolle des Effekts solcher Größen ließe sich aber in multivariaten Analysen durchführen.
Forschungsfragen
Interessant wären über die reine Deskription hinaus Antworten auf die folgenden Fragen, die ich in Tabellenform zusammengestellt habe. Die Fragen und Einflussgrößen sind selbstverständlich nicht abschließend gemeint ist, auch sind die Überlegungen wenig theoretisch fundiert und daher ad hoc.
Einflussfaktoren | Vermuteter Effekt auf den Ausbeutungsgrad (MR) | Operationalisierung |
Ausmaß der Mitbestimmung der Arbeitnehmer | – | Mitbestimmungsindex (MB-IX) (Scholz und Vitols 2018) |
Staatlicher Einfluss | – | Anteil der Aktien, den staatliche Akteure halten |
Einfluss von Finanzinvestoren | + | Anteil der Aktien, den Finanzinvestoren halten |
Familienunternehmen, Personengesellschaften | – | Rechtsform |
International tätige Unternehmen | + | Anteil des Umsatzes (der Mitarbeiter) im Ausland |
Sitz des Unternehmens in einem Land, das zu den „Liberal Market Economies“ (Hall und Soskice 2001b) zählt | + | Land des Unternehmenssitzes |
….. | … | … |
Interessant wäre also vor allem der Effekt des Governance-Systems der Unternehmen. Dieses sollte einen Unterschied machen, unabhängig von der Kapitalintensität der Produktion und Unternehmensgröße (economies of scale).
So sollten stärker mitbestimmte Unternehmen (immer ceteris paribus) eine geringere Ausbeutungsrate aufweisen. Wenn denn Mitbestimmung Verteilungseffekte hat, dann müsste man dies anhand des MR sehen können. Eine Messgröße ist hier vor allem der MB-IX, der Mitbestimmungsindex der Hans-Böckler-Stiftung, der nicht nur erfasst, ob Unternehmen mitbestimmt sind, sondern auch die Intensität der Mitbestimmung misst (Scholz und Vitols 2018).
Einen ähnlichen Effekt sollte man für den staatlichen Einfluss finden (wenn nicht, wäre dies zumindest für mich enttäuschend). Ein Beispiel könnte in Deutschland VW sein, ein Unternehmen, das stärker als andere staatlichen Einflüssen unterliegt, ohne ein staatliches Unternehmen zu sein. Die Ausbeutungsrate ist vermutlich auch höher, wenn Finanzinvestoren Einfluss nehmen, ebenso bei Unternehmen, die international tätig sind, bei Nicht-Familienunternehmen, und bei Unternehmen, deren Hauptsitz in einen Land ist, das als Liberal Market Economy anzusehen ist (Hall und Soskice 2001a). Der gemeinsame Mechanismus besteht in den höheren Profiterwartungen der Kapitaleigner.
Erste, sehr explorative und nur deskriptive Analysen mit Daten der AMADEUS-Datenbank (die Informationen über 7 Millionen Unternehmen in 38 europäischen Ländern beinhaltet, siehe Bureau van Dijk; https://www.bvdinfo.com/de-de/our-products/company-information/international-products/amadeus) zeigen zum einen eine erhebliche Varianz im Ausbeutungsgrad. Zum anderen deuten einfache Korrelationsrechnungen darauf hin, dass Unternehmen mit einer hohen Ausbeutungsrate auch weniger Steuern zahlen. Allerdings sind diese Befunde (noch) nicht belastbar, es sind unbedingt tiefergehende Analysen mit Kontrollvariablen (Branche, Rechtsform, Kapitalintensität etc.) erforderlich.
Auf jeden Fall stellt das Marx-Ratio bzw. die Ausbeutungsrate eine interessante Variable dar, zu der Informationen vorliegen, obwohl Daten aus Bilanzen und der Gewinn- und Verlustrechnung in erster Linie vor dem Hintergrund von Kapitalverwertungsinteressen zustande kommen. Aber Ausbeutung ist schließlich ein (objektives) Interesse des Kapitals.
Literaturverzeichnis
Hall, P. A.; Soskice, D. (2001a): An Introduction to Varieties of Capitalism. In: P. A. Hall und D. Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press, S. 1–68.
Hall, P. A.; Soskice, D. (Hg.) (2001b): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press.
Irwin, Neil (2018): Is Capital or Labor Winning at Your Favorite Company? Introducing the Marx Ratio. In: The New York Times, 21.05.2018. Online verfügbar unter https://www.nytimes.com/interactive/2018/05/21/upshot/marx-ratio-median-pay.html, zuletzt geprüft am 31.07.2018.
Ruccio, David (2018): Marx Ratio. Online verfügbar unter https://rwer.wordpress.com/2018/05/30/marx-ratio/.
Schmidt, Dieter (1975): entschleierte profite. Bilanzlesen leichtgemacht. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Nachrichten-Verlag.
Scholz, Robert; Vitols, Sigurt (2018): Der MB-IX in börsennotierten Unternehmen. Mitbestimmungsreport Nr. 43. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
1. Die obigen Überlegungen sind als eine Art Forschungsskizze zu verstehen. Vielleicht werde ich hier künftig weitere solche Skizzen posten, daher die Nummerierung mit #1. (Ein wenig hat mich Stanislaw Lems Idee der Rezension seiner eigenen ungeschriebenen Bücher animiert. Lem jedenfalls hatte mehr Ideen als Zeit, sie auch in Buchform zu realisieren.) ↩