Den Aufsatz, auf den sich der LSE-Blog-Post bezieht, findet sich hier: Avey, Paul C.; Desch, Michael C. 2014: What Do Policymakers Want From Us? Results of a Survey of Current and Former Senior National Security Decision-makers. In: International Studies Quarterly, Vol. 58, No. 4 (hier das working paper der Autoren, das sie freundlicherweise online gestellt haben).
Das ist ein interessanter Beitrag. Mir fällt ein, dass ich vor Längerem einen Text mit folgendem Titel geschrieben habe.
„Das schlechte Wissen verdrängt das gute“ – oder: Warum setzen sich bestimmte sozialwissenschaftliche Paradigmen und Managementkonzepte in der Unternehmenspraxis gegen andere durch?“ (In: Pankoke, E. (Hg.): Wert- und Wissensmanagement – Motivationsprobleme und Evaluationsprozesse, Essen 2002, S. 31-53. Eine ausführlichere Version dieses Beitrages ist unter dem Titel “Die Nutzung personal- und organisationswissenschaftlicher Erkenntnisse in Unternehmen. Eine Analyse der Bestimmungsgründe und Formen auf der Grundlage theoretischer und empirischer Befunde” erschienen in: Zeitschrift für Personalforschung, 1998, 12. Jg., H. 1, S. 21-49. Sie enthält einen stärker ausgearbeiteten theoretischen Rahmen, mehr empirische Belege und ausführlichere Literaturangaben.
Die Frage meines Beitrages war, welches Wissen in der „Unternehmenspraxis“ (was und wer das ist, ist natürlich zu klären) nachegraft wird. Antwort: „einfache, anschauliche Schemata oder unwiderlegbare, mit metaphysischen und wertenden Elementen durchsetzten Managementphilosophien“. Ich denke nicht, dass sich das geändert hat. Nur haben die rechtfertigenden Aussagen, die vor allem die Betriebswirtschaftslehre bzw. die Managementforschung liefern, sich in ihren Inhalten geändert. Die äußere Gestalt ändert sich, nicht der legimatorische Kern. Ich erlaube mir, etwas längere Passagen aus meinem Aufsatz zu zitieren:
„Was lernt “die Praxis” von “der Wissenschaft”? Welches Wissen wird von gegenwärtigen oder künftigen Managern angenommen und angewendet? Und welches Wissen wird ignoriert und nicht angewendet? Meine These ist, daß sich insbesondere die aus wissenschaftlicher Sicht schlechten Konzepte durchsetzen, also die Konzepte, die relativ vage Aussagen enthalten, die mit fragwürdigen Basisannahmen arbeiten, die kaum empirisch fundiert und zum Teil sogar falsch sind. Akzeptierte, weitverbreitete Konzepte sind also häufig wissenschaftlich wenig brauchbar – dies mag wenig überraschend sein. Überraschend aber ist, daß sie auch praktisch kaum brauchbar sind, d.h., aus ihnen lassen sich keine Gestaltungsaussagen entwickeln. Warum sind dann aber Konzepte mit den genannten Merkmalen in der Praxis, vor allem in Unternehmen, so weit verbreitet? Ich vermute folgendes: Die Hauptaufgabe des Managements besteht nicht nur darin, die richtigen Entscheidungen zu treffen; die Entscheidungen müssen auch gerechtfertigt und häufig gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden. Ich behaupte nun, daß sich das Management aus dem Angebot der Wissenschaft vorrangig die Konzepte und Ansätze herausgreift, die es zur Rechtfertigung, zur Legitimation von Entscheidungen benötigt. Dies sind nur zum Teil wissenschaftliche Theorien, sondern oftmals Aussagensysteme, die man als “Managementkonzepte” bezeichnen kann. …“.
„… In welchen Situationen ist welches Wissen funktional?
Es bleibt die Frage, welches Wissen geeignet ist, die je nach Entscheidungsprozeßsituation unterschiedlichen Probleme zu lösen. Abbildung 1 zeigt typische Entscheidungssituationen und das vermutlich in diesen Situationen bevorzugte Wissen. Ich vermute: Die Kombination von Wissens- und Konfliktproblem bestimmt (bei analytisch konstant gehaltenem Dissonanzproblem) die Form der Nutzung und welche Art von Wissen nachgefragt und genutzt wird.
Durch die Kreuztabellierung ergeben sich, je nach Ausprägung von Wissensproblem und Konfliktproblem, vier Situationstypen. Je nach Situationstyp ist unterschiedliches Wissen funktional und wird auf bestimmte Art und Weise genutzt. Eine Voraussetzung in allen vier Situationen besteht darin, daß das genutzte Wissen Dissonanzen zumindest nicht erhöht. In Situation 2 und 4, in denen das Wissensproblem besonders groß ist, müssen die Informationen darüber hinaus instrumentelle Kraft aufweisen. In Situation 3 und 4 ist es notwendig, daß das Wissen Konflikte reduziert oder verhindert.
Situation 1: Wenn das Wissens- und das Konfliktproblem gering sind, dann wird (sofern das vorhandene Wissen nicht ausreicht) auf bewährtes Praktikerwissen zurückgegriffen. Bei einer solchen Problemlage wird man wegen des vergleichsweise geringen Problemdrucks nicht auf Aussagen der Wissenschaft zurückgreifen, sondern auf erfolgreiche Praktiken im eigenen oder in anderen, „ähnlichen“ und erfolgreichen Unternehmen. Dies folgt aus den theoretischen Annahmen der beschränkten Rationalität und des satisfizierenden Verhaltens.
Situation 2: Wenn das Wissensproblem dominant und das Konfliktproblem gering ist, wird zunächst auf “naheliegendes” Praktikerwissen und bei nicht erfolgreichen Lösungen auf weniger naheliegendes Wissen (Empirie, Methoden, Theorien) zurückgegriffen. Zunächst wird also Praktikerwissen aus anderen Unternehmen gesucht. Dies dürfte aber bei komplexen Problemen mit hohem Bedarf an Wissen oft nicht ausreichend sein. Daher wird man – aber erst, nachdem sich Praktikerwissen aus „erster Hand“ als nicht (potentiell) problemlösend erwiesen hat – auf empirische Untersuchungen zurückgreifen, die erfolgreiche Lösungen beschreiben. Ein Beispiel: Erst wenn bei anderen Unternehmen keine geeigneten Konzepte zur Lohngestaltung vorhanden sind, haben Untersuchungen über den Erfolg von bestimmten Entlohnungssystemen in der Praxis eine Chance, herangezogen zu werden. Der nächste Schritt wird vermutlich darin bestehen, daß man auf prototypische Methoden zurückgreift, die in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind, die aber noch nicht umgesetzt wurden. Als Beispiel: Man nimmt bestimmte Vorschläge in der wissenschaftlichen Literatur zu Leistungslohnsystemen zur Kenntnis, obwohl diese noch nicht praktiziert worden sind. Erst im letzten Schritt wird man das Aufwendigste tun und Theorien suchen, aus denen man selbst Lösungen entwickeln muß. Um beim Anreizsystembeispiel zu bleiben: Man sucht nach Leistungsmotivationstheorien und versucht selbst, hieraus ein Anreizsystem zu entwickeln.
Situation 3: Wenn das Wissensproblem gering und das Konfliktproblem dominant ist, werden einfache, gut kommunizierbare, nicht widerlegbare Theorien und interessenkonforme empirische Befunde nachgefragt und genutzt. In dieser Situation muß Wissen vor allem geeignet sein, Konflikte beizulegen. Die politische Nutzung steht im Vordergrund, die instrumentelle Kraft des Wissens ist nachrangig. Um bestimmte Argumente durch „Wissenschaftlichkeit“ und „Rationalität“ aufzuwerten, sind Theorien und auch Ordnungsrahmen aus dem Wissenschaftssystem sehr nützlich. Dabei werden sich vermutlich solche Wissenssysteme durchsetzen, die bekannt, anerkannt und einfach zu kommunizieren sind. Darüber hinaus ist es funktional, wenn die verwendeten Konzepte nicht widerlegbar sind. Sie können dann breit für viele Zwecke verwendet werden, was wieder zu ihrer Verbreitung beiträgt. So sind zum Beispiel Beyer/Trice (1982: 600) der Ansicht, daß die Popularität der Theorie X/Y von McGregor (1970) und von Ouchis Theorie Z (Ouchi 1981) auf die Elastizität, die Mehrdeutigkeit dieser Ansätze zurückzuführen ist. Hier mag auch ein Grund für den zumindest für mich überraschenden Befund liegen, daß qualitativ gewonnenes bzw. aufbereitetes Wissen eher wahrgenommen und akzeptiert wird als „hartes“, quantitatives Wissen (Caplan/Morrison/Stambaugh 1975; van den Vall/Bolas/Kang 1976: 166-169; Deshpande 1981; Beyer/Trice 1982: 612). Darüber hinaus sind in Situation 3 empirische Ergebnisse funktional, die die eigene Position bestätigen und gegen die der Skeptiker sprechen. Hier dürfte die selektive Wahrnehmung und Nutzung von wissenschaftlichen Ergebnissen nach dem sog. „Steinbruchverfahren“ häufig sein (Müller-Rommel 1984): Man übernimmt selektiv passende Ergebnisse und ignoriert unpassende.
Situation 4: Wenn sowohl das Wissens- als auch das Konfliktproblem stark ausgeprägt sind, werden komplexe Managementansätze (oft von namhaften Beratern) nachgefragt und genutzt. Es ist sowohl das Wissens- als auch das Konfliktproblem zu lösen. Thompson/Tuden (1959: 202) halten in einer solchen Situation eine Entscheidungsstrategie für funktional und wahrscheinlich, die sie als Inspiration bezeichnen. Organisationen würden zwar versuchen, solche Situationen zu vermeiden, wenn dies jedoch nicht möglich sei, kämen „höhere Instanzen“ ins Spiel. Während in früheren Zeiten (oder in anderen Kulturen) übernatürliche Kräfte bemüht wurden (und werden), erfüllen in Unternehmen charismatische Führer, die Imitation von erfolgreichen Organisationen mit hohem Prestige oder die Hinzuziehung von anerkannten Managementberatern ähnliche Funktionen wie die Anrufung von Göttern (Thompson/Tuden 1959: 202). Ich vermute, daß hier in dieser Situation Ansätze eine höhere Chance haben, wenn sie einen instrumentellen Kern beinhalten, der Antworten auf das Wissensproblem erlaubt, die aber gleichzeitig einen ideologischen Kern aufweisen, der das instrumentelle Wissen rechtfertigt. Ich denke, daß komplexe Ansätze wie Lean Management, Business Reengineering, Total Quality Management usw. derartig aufgebaut sind. Hier an dieser Stelle kann kein systematischer Nachweis erfolgen, ein Beispiel soll den Gedanken illustrieren. Der Bestseller von Peters/Waterman (1984), der durch den Titel „Auf der Suche nach Spitzenleistungen. Was man von den bestgeführten US-Unternehmen lernen kann“ anwendbares Wissen verspricht, gibt durchaus Regeln an, die zumindest Hinweise für die Entwicklung von Gestaltungsaussagen liefern. Die Regeln werden aber gleichzeitig immunisiert, so daß Kritiker schwer Einwände erheben können (außer genau gegen diesen Sachverhalt der Immunisierung). Peters/Waterman formulieren beispielsweise als ein Erfolgsprinzip die Regel des „Primat des Handelns“, heben aber gleichzeitig hervor, daß schwer auszudrücken sei, was dieses Prinzip beinhalte (Peters/Waterman 1984: 150) – gleichwohl gelingt ihnen eine Definition: Mit “Primat des Handelns” wird das Vorhandensein von „Instrumente(n) (bezeichnet), mit denen diese (erfolgreichen, W.N.) Unternehmen für Durchlässigkeit der Organisation sorgen, Systeme vereinfachen, die Organisation in Bewegung halten und Experimentierfreude schaffen“ (Peters/Waterman 1984: 151). Hier handelt es sich um ein schönes Beispiel für eine Suggestivdefinition; wer wäre schon gegen Systemvereinfachung oder Experimentierfreude. Begründet wird diese Handlungsregel, unter die eine Vielzahl von (wohl nicht mehr von allen Akteuren positiv bewerteten) Rationalisierungsmaßnahmen subsumierbar wären, mit Rückgriff auf die Erfahrung von Autoritäten. Gleichzeitig betonen Peters/Waterman, daß man das Prinzip aber direkt erfahren haben müsse, um es beurteilen zu können (S. 149); eine rein empirische Widerlegung reicht offenbar nicht mehr aus. Die methodischen Probleme der Erhebung, die mangelnde Datenqualität und -verwendung der empirischen Daten sind mehrfach hervorgehoben worden (siehe z.B. Berry 1983; Carroll 1983; Guest 1992; Hitt/Ireland 1987; Mitchell 1985). Gleichwohl ist das Buch ein Bestseller geworden. Einen wesentlichen Grund sehe ich darin, daß dieses Werk das Wissensproblem und das Konfliktproblem „löst“.
Zusammenfassend kann man sagen, daß insbesondere in sehr unsicheren Situationen rechtfertigendes Wissen gefragt ist. Abstrakte, widerlegbare Theorien und transparentes empirisches Wissen stellen solche politisch gefragten Inhalte weniger zur Verfügung als einfache, anschauliche Schemata oder unwiderlegbare, mit metaphysischen und wertenden Elementen durchsetzten Managementphilosophien.“