“Allerdings ist diese Analyse sozialer Herrschaft nun so verfasst, dass sie nicht die moralischen Normen oder Rationalitätsgesichtspunkte zu erkennen gibt, auf die die Kritik sich legitimerweise stützen könnte: Bourdieu analysiert die sozialen Verhältnisse vielmehr stets aus der Perspektive eines Beobachters, der sich gegenüber allen Kämpfen um sozialen Distinktionsgewinn gleichermaßen neutral verhält. Nur in manchen Färbungen seiner Terminologie, in einer minutiösen Abänderung des affektiven Gehalts der Sprache kommt die Sympathie zum Tragen, die er zweifellos für die Bemühungen der Unterschichten um die Wiedergewinnung sozialer Ehre besessen hat.
Aber diese indirekten Bekundungen ändern nichts an der Tatsache, dass Bourdieu nicht über die normative Sprache verfügt, die ihm eine Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten, legitimen und illegitimen Ansprüchen auf soziale Anerkennung erlaubt hätte. Die ganze Tradition einer immanenten Kritik, die in der sozialen Wirklichkeit selber die Gesichtspunkte eines begründeten Einspruchs freizulegen versucht, ist ihm zeitlebens fremd geblieben.
Aus diesem Defizit seiner soziologischen Analysen erwächst das Problem, das seinen intellektuellen Stellungnahmen stets etwas Dezisionistisches anhaftet, weil sie nicht aus den normativen Deskriptionen selber erwachsen können, die Theorie enthält intern keine Hinweise, die begründen könnten, warum bestimmte Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit normativ abzulehnen oder zu begrüßen sind.” (Quelle: Axel Honneth 2012: Der Soziologe als Intellektueller, in: TAZ vom 31.1.2012)
Man kann sicher in die Theorie Normen einfügen, dann wird man auch “bestimmte Vorgänge” bewerten können. Aber woher kommen dann diese Normen, wie werden sie selbst wieder begründet? (Siehe dazu auch den Leserbrief von Olaf Rahmsdorf vom 6.2.12, ebenfalls in der TAZ). – Ohne Honneth zuzustimmen; mir gefällt, dass er einen zentralen Punkt der Kritischen Theorie klar und bündig formuliert. Im Übrigen würden viele Betriebswirte – sicher vor einem anderen Theoriehintergrund und auf anderer normativer Grundlage – die Position teilen, dass aus einer Theorie Aussagen folgen müssen, die geeignet sind, “bestimmte Vorgänge in der sozialen Wirklichkeit normativ abzulehnen oder zu begrüßen”.
Lieber Herr Buschow,
meine Position ist in Kürze diese: 1. Ich halte es für sinnvoll, in Theorien keine wertenden Aussagen aufzunehmen. Dies ist mindestens nicht notwendig. 2. Klar ist auch, dass Entscheidungen bei der Auswahl von Theorien und bei ihrer Anwendung unvermeidlich und damit Wertungen erforderlich sind. 3. Man kann Gestaltungsaussagen (in unserem Feld: sozialtechnologischer Art) formulieren, die Werte hypothetisch einführen. Nach dem Motto: Unterstellt, Z wäre ein Ziel, was wären dann die Mittel M zur Erreichung des Ziels Z? 4. Allerdings wird es nicht immer nur mit hypothetischen Werten gehen. Ohne Vorstellungen von einem „guten Leben“ kommt man irgendwann nicht mehr weiter. „Man“ muss entscheiden, was man will. (Das sagt übrigens Hans Albert so ähnlich, wenn auch besser. Er blogt auch nicht…) 5. Die von den Kritischen Realisten und auch von mir vertretene Vorstellung von Wertfreiheit der Wissenschaft ist sehr eng. Das ist an sich nicht problematisch, scheint mir aber Anlass zu Missverständnissen zu bieten. Daraus resultiert dann von einer Seite die Kritik, dass „Wertfreiheit” nicht möglich sei, weil man ja Entscheidungen treffen müsse. Von einer anderen Seite wird dann die enge Version der Wertfreiheit fälschlicherweise für jegliche Aussagen reklamiert, die nicht explizit Wertungen beinhalten. Man „schließt“ insb. von empirischen Befunden (die man möglicherweise zu Recht noch als wertfrei – in einem engen Sinne aber – bezeichnen könnte) auf Gestaltungsaussagen. Dabei werden Ziele nicht explizit gemacht, die Wertungen sind auch nicht hypothetisch, sie werden vielmehr durch den meist impliziten Rückgriff auf Wertfreiheit verschleiert. 6. Eine solche Vorgehensweise läuft den Prinzipien des Kritischen Realismus zuwider. Daher kann ich viele Gegner des Kritischen Realismus verstehen. Ihre Kritik richtet sich aber häufig gegen eine degenerierte Version des Kritischen Realismus, die durch eine halbierte Rationalität gekennzeichnet ist – sie ist nicht mehr kritisch. Insofern stehe ich mancher dieser Kritiken nahe. Das heißt wiederum nicht, dass man sämtliche Argumente der Kritiker zu übernehmen hätte.
Werner Nienhüser
Lieber Herr Nienhüser – Danke für die fixe Antwort! Ich stimme mit einer Reihe von Punkten überein, hätte jedoch auch noch die ein oder andere Nachfrage.
Ad 1: Geht das wirklich? Dass man eine Theorie von Wertaussagen freihält – ok. Aber wenn Theorien Kinder oder Moden ihrer Zeit sind, dann entstehen sie auch vor einem Werthintergrund, der sie durchsetzt, oder? Entsprechend sind wir aber vermutlich noch eine Gedankenstufe höher…
Ad 2: Wäre die der Wertbasis von Wissenschaft, die nach Albert ja auch einfach notwendig ist, richtig? (Albert sagt ja auch: das Wertfreiheitspostulat ist selber normativ). Hier stimme ich also mit ihrem 5. teils überein: Wissenschaft kann nicht ohne Entscheidungen (=Werturteile) funktionieren. Für den (empirischen) Forschungsprozess hat ja v.a. Ulrich Beck gezeigt, wie hier normative Momente in jedem Schritt (Auswahl von Theorie, Methoden, Vergleichswerten in Statistiken etc.) relevant sind.
Ad 3: stimme ich definitiv zu, auch wenn man aber wohl rekonstruieren muss, welche Zielkategorien dann in der Mainstream-Forschung verfolgt werden (so ja schon Ortmann 1976). Das kritisieren Sie – wenn ich es richtig verstehe – ja auch in 5., dass es entsprechende Forschung gibt, die ihre normativ-praktische Gesinnung nicht transparent macht, sondern sich hinter dem Gerede eines “degenerierten” Kritischen Rationalismus versteckt.
Dann aber würde mich noch Ihre Einschätzung interessieren: Sie gehen ja nach 3. davon aus, dass die BWL Handlungsempfehlungen an extrawissenschaftliche Akteure geben kann, richtig? Da gibt es im Fach durchaus ja auch andere Stimmen, die eine Gestaltungsorientierung zumindest in Zweifel ziehen (siehe den oben schon erwähnten “Dialog Erfolgfsfaktorenforschung”). Wie ist Ihre Meinung hierzu?
Wo ich Ihnen in jedem Fall zustimme: H. Albert werden wir nicht mehr zum Bloggen bringen — aber schön, dass es immer mehr Professoren gibt, die sich in digitalen Medien austauschen.
Mit Dank und besten Grüßen
Christopher Buschow
Lieber Herr Nienhüser,
mit Ihrem Beitrag (und im Übrigen auch Ihrem sehr gelungenem Artikel in management revue) werfen Sie m.E. interessante Schlaglichter, die heute zu wenig Beachtung finden. (Es ist z.B. verwunderlich, dass die wilde Debatte um Erfolgsfaktorenforschung nicht an ff. angebunden wurde.) Ich habe mich immer gefragt, wie man eigentlich einerseits im Rekurs auf Hans Albert Wertfreiheit in wissenschaftlichen Aussagensystemen bzw. in der Objektsprache postulieren kann (und die BWL sieht sich als empirische Sozialwissenschaft ja durchaus dieser epistemischen Vorgabe verpflichtet), aber andererseits (ggf. noch im selben Beitrag) präskriptive, anwendungs- und gestaltungsorientierte “Management Implikationen” o.ä. anführen kann. Sind das nicht genau diejenigen normative Aussagen, die man eigentlich vermeiden möchte?
M.W. wird die Rettung dann oft darin gesucht, dass man angibt, lediglich (“neutrale”) sozialtechnologische Aussagen (hypothetische bzw. erkennende Werturteile – das findet sich m.W. s.ä. auch bei Albert) zu formulieren (“Um X zu erreichen, muss Y getan werden”). Gegen diese muss dann aber wiederum ein Bias hinsichtlich bestimmter Interessen zumindest geprüft werden (das haben Sie ja in o.g. Artikel für dt. Peronalwirtschaftsforschung getan). Habe ich vielleicht einen springen Punkt in der Argumentation der Betriebswirte übersehen?
Beste Grüße
Christopher Buschow